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Kolumne

Customer Centricity

Vom Schlagwort zur gelebten Realität

03/2021

Corona ist für den Handel ein Schock von gewaltiger transformativer Kraft – die Kundenorientierung ist wichtiger denn je.

Aktuell vergeht kaum eine Woche, in der nicht über neue Insolvenzen ehemals namhafter Marken und Unternehmen, über die Straffung bedeutender Filialnetze und über Entlassungen von Mitarbeitern berichtet wird.

Eine Entwicklung, die sich in nahezu allen Branchen vollzieht – im Mode-, Sport- und Schuheinzelhandel, in Parfümerien, im Bäckereigewerbe sowie in der Gastronomie. Die deutsche Wirtschaft durchleidet eine der schwersten Strukturkrisen in ihrer Geschichte, immer mehr Unternehmen werden zum Aufgeben gezwungen.

Ein ähnlich düsteres Bild wird für die Innenstädte skizziert: Der Hauptverband des Einzelhandels prognostiziert, dass bis zu zwei Drittel der dort ansässigen Händler in Existenzgefahr geraten werden, vielen Innenstädten droht eine Verödung, gerade strukturschwache Mittelzentren scheinen kaum noch überlebensfähig zu sein.

Es scheint so, als hätte Corona einen enormen, exogenen Schock ausgelöst; ein Gamechanger von gewaltiger transformativer Kraft. Mit dem Ergebnis, dass die Unternehmen, die schon vor Corona als angeschlagen galten, nun noch mehr in Bedrängnis geraten: Das umfasst Geschäftsmodelle, die dem Wettbewerb mit den Online-Anbietern nicht mehr gewachsen sind, genauso wie Konzepte, die mit hohen Investitionsstaus belastet sind und sich nicht mehr zeitgemäß genug präsentieren. Zudem Manager, die an alten Standards und Prozessen festhalten, welche eher der weiteren Rationalisierung der eigenen Prozesse als einem echten Kundennutzen dienen. Die Coronakrise hat uns alle in eine Phase des diskontinuierlichen Wandels versetzt. Gewinner im Markt werden die Unternehmen sein, die ihre Strategie schnell genug auf die neue Situation und auf die neuen Verhaltensmuster sowie Erwartungshaltungen der Konsumenten einstellen können.

Diese Herausforderung für traditionelle Geschäftsmodelle vergrößert sich aller Voraussicht nach weiter dadurch, dass Konsumenten nach einer mehr als einem Jahr andauernden Ausnahmephase kaum mehr in alte Handlungsweisen zurückkehren werden – selbst Kunden in der zweiten Lebenshälfte lernen die alternativen Geschäftsmodelle des Internets mit all ihren Vorteilen zu schätzen, die bequeme Auswahl, leichte Bestellung und schnelle Lieferung wird auch ihr Anspruchsniveau dauerhaft verändern. Damit ist vorauszusehen, dass Unternehmen selbst nach Überwindung der aktuellen Krise eine neue Realität vorfinden werden: Statt der Rückkehr in die alte Normalität werden sich Unternehmen aller Voraussicht nach in einer neuen Realität zurechtfinden müssen.

Jeff Bezos plant rückwärts

In diesem Zusammenhang begegnet man dem Begriff der Customer Centricity – einem bereits seit Längerem breit diskutierten Ansatz einer noch konsequenteren Fokussierung sämtlicher Prozesse auf die Bedürfnisse und Wünsche von Kunden; ein Konzept, das bereits seit einigen Jahren immer wieder neu in den jährlichen Hitlisten der Meta-Trends zu finden ist. Allerdings: Die aktuellen Unternehmenspleiten zeigen, dass Customer Centricity in vielen Branchen eher als Beifall heischendes Schlagwort diskutiert denn als ganzheitliches Unternehmenskonzept gelebt wird – um die Konsumenten dauerhaft zu begeistern, muss aus einem Lippenbekenntnis ein durchgängiger, ganzheitlicher Unternehmensansatz über sämtliche Kontaktpunkte hinweg werden.

Spannend in diesem Zusammenhang ist, dass traditionelle Geschäftsmodelle gerade von den Wettbewerbern im Internet lernen können. Denn dort beheimatete Geschäftsmodelle leben eine solche umfassende Kundenorientierung über sämtliche Gestaltungsmomente hinweg. Die jeweiligen Anbieter begnügen sich in der Gestaltung des Einkaufserlebnisses nicht nur mit einem auf den Kunden abgestimmten Sortiment, sondern beziehen sämtliche Bedien- und Abwicklungsprozesse bis in das kleinste Detail mit ein: Bei Online-Anbietern werden einzelne Produkte durch die Einbindung spannender Tutorials, lebendiger Bewegtbild-Sequenzen oder hilfreicher Erfahrungen anderer Kunden mit noch mehr Informationen versehen. Die meisten klassischen Anbieter sortieren ihre Sortimente zumeist kommentar-/emotionslos ins Regal ein. Und wo im Internet das eigentliche Produktangebot über sinnvolle Begleitartikel ergänzt wird, stolpert man in vielen klassischen Modellen über offensichtlich Margen-gesteuerte Sonder- und Postenaufbauten. Während der Klick-Aufwand im Kassenund Check-out-Prozess zur Erhöhung des Kundenerlebnisses im Online-Handel ständig programmierungstechnisch weiter optimiert wird, fühlen sich Konsumenten im Supermarkt an der Kasse getrieben, ihre Einkäufe schnellstens verräumen zu müssen, um Platz für den nächsten Kunden zu machen.

 

Autor

Prof. Dr. Wolfgang Merkle
Präsident, Marketing Club Hamburg